Mythos Hildegardküche

Hildegard von Bingen hat KEINE Kochrezepte geschrieben!

Ich weiß nicht, wie oft ich diesen Satz schon gesagt oder geschrieben habe. Und man kann ihn nicht oft genug wiederholen.
Daher noch einmal: Hildegard von Bingen hat keine Kochrezepte geschrieben!

50 Jahre Hildegardküche

Leider ist über Hildegard eine Menge Blödsinn im Umlauf.
Das gesteigerte Interesse für die sog. „Hildegardmedizin“ entstand in den 70er Jahren des 20. Jhds. Daraus entwickelte sich dann in weiterer Folge die „Hildegardküche“.
Aus nicht nachvollziehbaren Gründen werden dabei Galgant, Bertram und Dinkel bevorzugt. Keine dieser Zutaten nimmt bei Hildegard eine besondere Stellung ein.
Festzustellen ist auf jeden Fall: Die Hildegardküche ist eine moderne Vollwertküche, die mit Hildegard nur sehr am Rande etwas zu tun hat.

Die Kochrezepte, die Hildegard zugeschrieben werden sind daher im Allgemeinen nicht älter als 50 Jahre!

Vielseitige Hildegard

Wenn man ihre Tätigkeiten in heutige Begriffe fassen will, war Hildegard von Bingen Theologin, Musikerin, Poetin, Naturwissenschaftlerin und noch so einiges mehr
Aber sie war definitiv nie Köchin!

Ihr großer Beitrag zu dem, was wir heute über Medizingeschichte wissen, war ihre Sammlung von lokalem Wissen zur Heilkunde. Die weitaus größere Anzahl von medizinischen Schriften dieser Zeit kommen aus dem persisch/arabischen Raum und stützen sich – sehr grob gesprochen – auf Galens Viersäftelehre.
Hildegard von Bingen hat in ihren Werken die medizinische Grundlage der Viersäftelehre und die darin gelisteten Eigenschaften von Lebensmitteln mit dem verbunden, was lokal bekannt war.
Wichtig: Allerdings verwendet sie bei weitem nicht nur lokale Zutaten! Sie nennt ebenso selbstverständlich und oft die exotische, teure Gewürzpalette, wie Pfeffer, Zimt und Muskatnuss. Daher ist davon auszugehen, dass es sich bei ihren Rezepten um medizinische Anweisungen für die höheren sozialen Ränge handelt.

Ja, sie hat so etwas wie eine Ernährungsberatung geschrieben und viele ihrer Behandlungen stützen sich auf das Essen und Trinken von bestimmten Kräutern und Gewürzen.
Das resultiert aber daraus, dass Ernährung und Medizin im Mittelalter nicht getrennt werden können. Es ist nun einmal eine logische Methode, Medikamente oral zu sich zu nehmen – wie man ja auch heute noch die allermeisten Medikamente oral verabreicht.

Von Pillen und ‚Keksen‘

Es kursieren eine Menge angeblicher Hildegard-Rezepte da draußen aber besonders beliebt sind immer wieder die ‚Hildegard-Kekse‘.
Oft laufen sie auch unter ‚Gute-Laune-Kekse‘ oder ‚Nervenkekse‘.
Ich habe mir ein paar dieser Rezepte angesehen und üblicherweise haben wir folgende Zutaten:
Dinkelmehl, Honig, Butter, Ei, Zucker, Galgant und dann die ‚Keks-Gewürzmischung‘ Muskatnuss, Zimt und Nelken. Oft noch kombiniert mit Zitronenschale oder Vanille.

Wie man auf die ‚Gute Laune‘ etc. kommt, lässt sich nachvollziehen. Es gibt in der Physica eine Rezeptur zur Stimmungsaufhellung – also im Prinzip ein Antidepressivum.
Dort werden Muskatnuss, Zimt und Nelken als Zutaten genannt.
Allerdings definitiv nicht in Verbindung mit Butter, Honig, Zucker, etc.
Das einzige, was beigegeben wird ist Semmelmehl und Wasser.
Danach wird aus der Masse ein Küchlein geformt und in einem kühlen Ofen getrocknet.

Machen wir an dieser Stelle doch einen kleinen Ausflug in die moderne Pharmazeutik.
Was ist die gängigste Form eines Medikaments? Richtig – die Pille!
Was genau macht eine Pille?
– sie stellt ein Trägermedium für einen Wirkstoff zur Verfügung
– sie stellt sicher, dass die Dosierung immer die Gleiche ist
– sie lässt sich auf Vorrat produzieren und lagern
– sie erleichtert die Verabreichung und Einnahme

Genau das hat Hildegard getan, wenn sie von den oben genannten ‚Küchlein‘ oder ‚Keksen‘ schreibt.
Das oben genannten Rezept ist auch bei weitem nicht das einzige bei dem solche Küchlein genutzt werden. Sieht man sich die entsprechenden Rezepte an, findet sich Mehl oder auch Bohnenmehl, das mit Wasser und den jeweiligen medizinisch relevanten, genau bemessenen Stoffen vermischt wird.
Im Anschluss werden diese Küchlein in der Sonne, in einem kühlen Ofen oder nahe der Glut eher getrocknet als gebacken.
Was macht der ‚Hildegard-Keks‘ also? Richtig!
– er stellt ein Trägermedium für einen Wirkstoff zu Verfügung
– er stellt sicher, dass die Dosierung immer die Gleiche ist
– er lässt sich auf Vorrat produzieren und lagern
– er erleichtert die Verabreichung und Einnahme

Die „Hildegard-Kekse“ sind also im Prinzip eine sehr freie und vor Allem sehr moderne Interpretation eines Pillen-Rezepts aus dem 12. Jhd.
In keinster Weise handelt es sich dabei um ein historisch korrektes Kochrezept aus dem Mittelalter.

Hildegard vs. moderne Kräutermedizin

An dieser Stelle noch ein zweiter, mir sehr wichtiger Hinweis:

Wer sich ernsthaft für Hildegard interessiert und sich mit ihrer Medizin auseinandersetzen will, der sollte folgendes beachten:

Bitte kritisch informieren! Wie ich oben schon geschrieben habe, ist über Hildegard eine unglaubliche Menge von unwissenschaflichem, esoterisch-neuheidnischem Geschwurbel unterwegs.
Wer sich ernsthaft informieren will, dem wird das Quellenstudium – also eine Auseinandersetzung mit Hildegards Schriften – nicht erspart bleiben.

Die aktuellste und beste Übersetzung der beiden Werke „Causae et Curae“ und „Physica“ stammen von Ortrun Riha, die nicht nur Übersetzerin und Historikerin ist, sondern auch Ärztin und Professorin an der Uni Leipzig.

Riha, Ortrun (Übers.) „Ursprung und Behandlung von Krankheiten: Causae et Curae“ Hildegard von Bingen – Werke, Abtei St. Hildegard, Eibingen, Beuroner Kunstverlag, 2011
Riha, Ortrun (Übers.) „Heilsame Schöpfung – Die natürliche Wirkkraft der Natur: Physica“ Hildegard von Bingen – Werke, Abtei St. Hildegard, Eibingen, Beuroner Kunstverlag, 2012

In weiterer Folge gehört dazu eine ebenso kritische Auseinandersetzung mit der Medizin des 12. Jhds und damit, dass Hildgard ganz und gar in dieses 12. Jhd gehört.
Viele ihrer medizinischen Vorgaben sind bestenfalls wirkungslos und schlimmstenfalls gefährlich!
Das reicht von einer Mischung aus Fett und Asche gegen Haarausfall bis hin zu der Empfehlung regelmäßig Maiglöckchen zu sich zu nehmen!

Daher: neben einer guten Übersetzung von Hildegards Werken bitte IMMER auch ein aktuelles Werk zur Phytotherapie nutzen – die mittelalterlichen Rezepte überprüfen und entsprechend adaptieren!
Kräutermedizin ist keine Spielwiese für Kunstpelz-Schamanen und Leintuch-Druiden!

In diesem Sinne:
Interessiert euch für Hildegard, denn sie hat es verdient – sie war sicher eine außergewöhnliche Frau.
Aber sie war weder eine Köchin noch eine Wunderheilerin.


Riha, Ortrun, Nahrungsmittel und Rezepte bei Hildegard von Bingen.
In: Hofmeister-Winter, Andrea (Hg.): Kochbuchforschung interdisziplinär. Beiträge der kulinarhistorischen Fachtagungen in Melk 2015 und Seckau 2016. Graz: Unipress, 2017 (Grazer mediävistische Schriften: Quellen und Studien; 1), S. 145-160.

Riha, Ortrun (Übers.) „Ursprung und Behandlung von Krankheiten: Causae et Curae“ Hildegard von Bingen – Werke, Abtei St. Hildegard, Eibingen, Beuroner Kunstverlag, 2011

Riha, Ortrun (Übers.) „Heilsame Schöpfung – Die natürliche Wirkkraft der Natur: Physica“ Hildegard von Bingen – Werke, Abtei St. Hildegard, Eibingen, Beuroner Kunstverlag, 2012

Bildquelle: Wikimedia
https://en.wikipedia.org/wiki/Hildegard_of_Bingen#/media/File:Meister_des_Hildegardis-Codex_004.jpg

6 Gedanken zu „Mythos Hildegardküche“

  1. Hallo Christa,
    dein neuer Artikel spricht mir direkt aus der Seele. Auch ich habe den Satz „Nein, Hildegard hat keine Kochrezepte geschrieben!!!“ bei meinen Kochvorführungen auf der Ronneburg mehrfach sagen müssen. Allein man hat mir nicht so recht geglaubt.
    Deshalb gefällt mir die Herleitung von Frau Riha über die sog. Hildegardmedizin und die daraus folgende „Hildegardküche“ aus den 70ern als gute Erklärung. Natürlich mit vielen Fragezeichen.
    Danke für deine Nennung der Quellen.
    Das Buch über die „Kochbuchforschung“ ist übrigens als kostenloser download erhältlich.
    Schade, dass wir uns dieses Jahr nicht in Gelnhausen sehen. Kommt ihr 2021?
    Ich hoffe ihr seid alle gesund.
    Liebe Grüße
    Peter

    1. Guten Morgen, Peter 🙂
      danke für das Lob 🙂
      Ja, ich weiß, dass das Buch zum Download freigegeben wurde. Ich muss aber zugeben, dass ich das ganz absichtlich nicht dazu geschrieben habe. Ich würde mich nämlich freuen, wenn da für die Grazer noch ein bisschen Geld rausspringen würde.
      Die leisten mit der Arbeitsgruppe zur MA Küche so tolle Arbeit.
      Ja, Gelnhausen wird leider nichts – wie so viele andere Veranstaltungen 🙁
      Für 2021 haben die Wölfe noch keine fixen Pläne (außer Indra hätte was nicht verraten 😀 ). Aber ich gehe schon davon aus, dass es da auch eine VA mit Küche und Ernährung geben wird.
      Ich würde mir wirklich freuen, dich zu sehen!
      Liebe Grüße aus einem heute verregneten Österreich
      Christa

  2. Hallöchen Christa …. ?
    Ein Netter Menschen und Koch gab Mir den Link hier zu!
    Ich war bis her der Meinung Galileo und TerraX Sendungen wären wissenschaftlich sehr genau 😏 Öffentlichen im Sinne der Umsatzes um Geld zu verdienen.
    Das Hildegard Medizin herstellen muss als Kloster Frau ist ja normal besonders im Oberen Rang. Das sie Kochrezepte gemacht hätte Wüste ich nicht zumindest bin ich schon Mal vorgewarnt.
    Was ist allerdings mit den Gewürzen mit dessen Namen Hildegard hinhalten muss? Sind die Real erwähnt in Ihren Schriften?
    Sie Schreiben dass Ihre Medizin keine Wirkung hätte, keine Wirkung im Vergleich zu Moderner Medizin oder keine Wirkung allgemein wie ihre Beschreibung rüber kommt hätte Hildegard möglicherweise Placebo zusammen gebacken.
    Mit dem Ofen als Dürre Automat oder das gleiche Prinzip als Kühlschrank ist mir bekannt, die Technik ist auch perfekt zum Räuchern.
    Aber Mehl als Grundlage (Träger Stoff) wenn Mehl die Saat Naß wird und nicht schnell genug trocknet entsteht ein Schimmelpilze der in geringer Menge tödlich sein kann.
    Ich kann mir das nicht vorstellen.

    Gibt es ein Gutes Buch Mit ISBN!
    Das über die Herstellung von Medikamenten des Mittelalters schreibt?
    PS: ich kann kein Ausländisch bitte nur in Deutsch mehr habe ich nicht gelernt.
    Wenn Ihr eine Interessante habt Blog oder soetwas würde ich mich über ein Link freuen.
    LG Ricky

    1. Hallo Ricky,

      das sind eine Menge Fragen. Ich versuche mal vorne anzufangen:
      Also: Galileo und TerraX sind vor Allem extrem ungenau. Oft stützt man sich dort auf nachlässige Recherche oder veraltete Daten. Persönlich würde ich keinem der beiden Formate über den Weg trauen.

      Tatsächlich hätte Hildegard die Medikamente mit großer Wahrscheinlichkeit NICHT selbst hergestellt – wenigstens nicht mehr zu dem Zeitpunkt als ihre Bücher entstanden sind. Als Äbtissin und Adelige arbeitete sie mit ziemlicher Sicherheit nicht mehr selbst im Hospital ihres Klosters. (Übrigens hat sie auch nicht selbst geschrieben – sie hatte einen Schreiber.)

      Hildegard hat Mischungen an Heilmitteln zur gezielten Bekämpfung von Krankheiten beschrieben, allerdings handelt es sich auch bei diesen Rezepturen AUSSCHLIESSLICH um Medikamente, nicht um Gewürzmischungen für die Küche. Ich kenne natürlich nicht alle Gewürzmischungen, die unter ihrem Namen verkauft werden – vielleicht sind darunter einige, die Hildegards Empfehlungen folgen, andere werden es nicht tun.

      Ich habe geschrieben „Viele ihrer medizinischen Vorgaben sind bestenfalls wirkungslos“ – das heißt nicht, dass alles wirkungslos sind. Denn natürlich haben die Kräuter und Pflanzen, die sie beschrieben hat, eine Wirkung. Aber es gibt eben auch einige, deren Wirkung falsch beschrieben wurde (wie zum Beispiel die des Baldrians). Und dann gibt es Rezepte, die eindeutig dem Volksglauben ihrer Zeit entspringen, wie das Bärenfett gegen Haarausfall (was natürlich genau gar nichts bewirkt, außer dass die Haare fett werden).
      Ich bezweifle sehr, dass Hildegard – oder die mittelalterliche Medizin allgemein – eine Ahnung von Plazebo-Wirkungen hatte.

      Das mit dem Mehl als Trägerstoff habe ich mir nicht ausgedacht. Es steht so in Hildegards Schriften. Und es funktioniert auch. Das beweisen Nahrungsmittel, die heute noch gegessen werden, wie zum Beispiel Zwieback oder Südtiroler Schüttelbrot, die auf dem kompletten Austrocknen des Backwerkes beruhen und die – trocken und luftig gelagert – fast ewig halten.
      Ich würde meinen, du verwechselst das mit dem Mutterkorn, einem Pilz, der auf Getreide (nicht auf dem fertigen Mehl!) wächst. Und ja, Mutterkorn ist hoch giftig und damit hatte man im Mittelalter auch Probleme. Das hat allerdings nichts mit dem zu tun, was Hildegard beschrieben hat.

      Ich bin keine Expertin für mittelalterliche Medizin, daher kann ich auch nicht mit gutem Gewissen Bücher dazu empfehlen. Allerdings wird in den von mir angegebenen Übersetzungen von Hildegards Werken sehr, sehr viel dazu erklärt. Ortrun Riha, die Übersetzerin ist auch Ärztin und Medizinhistorikerin und hat viel zusätzliches Wissen in die Bücher gepackt. Die wären ein sehr guter Startpunkt.

      Ich hoffe, das beantwortete die meisten Fragen.
      LG
      Christa

Schreibe einen Kommentar zu Christa Schwab Antworten abbrechen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert